Für diejenigen unter uns, die sich schon damals über ihre Fader gebeugt haben, als die Erde noch eine Scheibe war, ist das Konzept der Aussteuerung relativ leicht zu verstehen. Jedes einzelne Gerät war ein Glied in der Audiokette, das sichtbar über Patchkabel verbunden wurde, und analoge Verzerrungen waren ebenso leicht zu hören wie zu erkennen. In der modernen volldigitalen Welt ist das leider nicht mehr so einfach. Signalwege können unkonventionell und verworren sein – und digitale Verzerrungen können subtil und heimtückisch sein.
Mit dem Aufkommen der DAW hat sich die Art und Weise, wie wir Aufnahmen machen, zwar grundlegend verändert, aber die richtige Aussteuerung ist für eine gute Aufnahme nicht weniger wichtig. Das benutzerfreundliche und fehlerverzeihende Design von Computer-Audioprogrammen macht es nur allzu leicht, Fehler in einer schlecht aufgesetzten Signalkette zu übersehen – und die Ergebnisse können dir letztlich auf die Füße fallen.
Immer eine Frage des Aussteuerung
Von der ersten Aufnahme bis zur endgültigen Abmischung durchläuft ein Signal in einer typischen Aufnahmekette eine Vielzahl von Stufen oder Geräten. Jedes dieser Geräte, egal ob „echte“ Hardware oder Software-Plugins, muss einen optimalen Signalpegel an seinem Eingang erhalten: Ein zu geringer Pegel kann zu Rauschen führen, während ein zu hoher Pegel Übersteuerungen und Verzerrungen hervorrufen kann. Wenn du die Ein- und Ausgangspegel jedes Plugins in der Signalkette im Auge behältst, kannst du sicherstellen, dass der Ausgang jedes Geräts ein sauberes Signal an den Eingang des nächsten Geräts weiterleitet.
Abgesehen von den Kanal-Inserts werden die Eingangspegel der meisten Plugins über den Effektsend des Mischpults und den eigenen Eingangspegelregler des Plugins ausgesteuert. Die Anpassung des Send-Pegels im Mischpult an den Eingangspegel des Plugins ist der Schlüssel für eine korrekte Aussteuerung. Wenn du einen zu geringen Pegel an den Effektbus ausgibst und zum Ausgleich dann den Eingangspegel im Plugin aufdrehst, wird das Signal lauter. Umgekehrt führt ein zu hoher Ausgangspegel im Effektsend und ein anschließendes Absenken des Eingangspegels im Plugin zu einem verzerrten Signal.
Grundsätzlich wird eine nominale Aussteuerung angestrebt. Von einigen Ausnahmen abgesehen (vor allem Kompressoren und andere Dynamikprozessoren) ist es eine gute Faustregel, bei der Aussteuerung zu versuchen, immer einen identischen Peak-Pegel zu erreichen, unabhängig davon, ob das Plugin in die Signalkette eingebunden ist oder nicht. Wenn der Signalpegel merklich höher oder niedriger ist, wenn du das Gerät auf Bypass schaltest, solltest du die Aussteuerung nochmals überprüfen.
Wenn ein Signal einfach irgendwo übersteuert
Übersteuerungen können im digitalen Bereich besonders problematisch sein. Wenn man das Eingangssignal eines analogen Geräts anhebt, so nimmt die Verzerrung allmählich zu, bis es schließlich clippt. Bei digitalen Schaltungen gibt es keine Sicherheitszone – ein einziges dB zu viel führt dazu, dass das Signal nicht mehr sauber klingt, sondern übersteuert.
Im Gegensatz zu analogem Clipping ist das digitale Clipping manchmal schwer zu entdecken, wenn es nur ein minimaler Aspekt in einer dynamischen Mischung ist. Wenn das Clipping unentdeckt bleibt, werden die digitalen Informationen für dieses Signal dauerhaft beschädigt, selbst wenn der Pegel später in der Mischung wieder abgesenkt wird. Trotzdem kann diese durch digitales Clipping verursachte Verzerrung eine subtile, aber dennoch unerwünschte Auswirkung auf die Klangqualität deiner Tracks haben – meist in Form eines kaum wahrnehmbar spröden, rauen digitalen Eindrucks, der die Zuhörer ermüden kann.
Selbst ein relativ geringes Maß an Verstärkung durch bestimmte Plugins – wie z. B. einen Hochpassfilter – kann Peaks und Einschwingvorgänge deutlich verstärken. Dabei solltest du dich nicht darauf verlassen, dass dich deine Pegelanzeigen immer darauf aufmerksam machen. In den meisten DAW-Konfigurationen werden Plugins vor dem Fader eingesetzt. Selbst wenn du die Pegel in den Kanalzügen unter der Übersteuerungsgrenze hältst, kann es sein, dass die Verzerrung eines bestimmten Plugins nicht auffällt, wenn der Pegel in der Signalkette mit dem Fader weiter abgesenkt wurde. Noch einmal: Deine Ohren sind dein wichtigstes Werkzeug. Höre jedes Gerät solo ab und achte auf alles.
Darauf musst du achten
Es liegt auf der Hand, dass sich unterschiedliche Signalprozessoren auch ganz unterschiedlich auf die Gesamtaussteuerung auswirken – und einige sind einfacher zu handhaben als andere. Bei Hardware-Hallgeräten ist die Verzerrung in der Regel nicht so stark zu hören. Der „angenehme“ Charakter verschiedener Plugin-Algorithmen für Hall kann jedoch andere Artefakte verdecken, wie z. B. Rauschen, das durch einen zu niedrigen Effekt-Send-Pegel entsteht.
Multiband-EQs können besonders schwierig sein, vor allem wenn es um Signalspitzen und Transienten geht. Bei modernen Multiband-EQ-Plugins kann es schnell passieren, dass sich zwei Bänder in einem Frequenzbereich überlappen, so dass die kumulative Verstärkung zu Clipping führen kann.
Kompression und Dynamikbearbeitung stellen ganz andere Herausforderungen dar, und eine ausführliche Beschreibung, wie sie sich auf die Signalkette auswirken, ist ein Thema für einen eigenen Artikel. Kurz gesagt ist es jedoch wichtig, auf die Attack- und Gain-Einstellungen eines Kompressors zu achten, da diese einen großen Einfluss auf die Aussteuerung des Signals am Ausgang des Kompressors haben können.
Lerne deine Plugins kennen
So wie jede Gitarre und jeder Vintage-Verstärker einen eigenen Klangcharakter besitzt, so hat auch jeder Signalprozessor seinen eigenen Charakter. Das gilt für Software-Plugins ebenso wie für Hardware. Verschiedene Geräte gehen unterschiedlich mit Verstärkung und Übersteuerung um. Es ist ebenso wichtig, ein gutes Gespür dafür zu bekommen, wie die einzelnen Plugins in verschiedenen Situationen reagieren, wie du jedes andere Instrument in deinem Arsenal kennen solltest.
In der analogen Ära testeten die Ingenieure jedes neue Gerät, indem sie eine Sinuswelle durchschickten und das Signal auf einem Oszilloskop beobachteten. So konnten sie sehen, bei welchen Frequenzen das Gerät übersteuert, welche Art von Verzerrung auftritt und andere Merkmale beobachten, die ihnen dabei halfen, das Gerät optimal auszusteuern und die richtige Position in der Signalkette zu finden.
Das Gleiche kannst du mit deinen häufig verwendeten Plugins auch machen. Öffne ein Oszilloskop oder eine Frequenzdarstellung in deiner DAW, stell den Eingangspegel des Plugins (und den Ausgangspegel, falls vorhanden) auf Nominalpegel ein und schick eine Sinuswelle durch das „Gerät“. Beobachte den Ausgang, wenn du den Send-Pegel schrittweise anhebst.
Natürlich ist der Geek-Faktor eines Tests mit Sinuswellen kein Ersatz für das Hören. Bei vielen Spuren in einer Mischung werden auch mehrere Plugins in den Signalwegen eingefügt. Denk daran, dir jeden Effekt einzeln anzuhören – und nicht die Summe mehrerer Effekte.
Als würde man Farbe beim Trocknen zusehen
Wenn du bis hierher gekommen bist, hast du wahrscheinlich schon gemerkt, dass das Thema „Aussteuerung“ weder sonderlich spannend noch kreativ ist. Aber trotzdem ist das eines der wichtigsten Themen bei der Aufnahme, und Ignorieren ist definitiv keine Option. Je besser du dich mit der Aussteuerung im Allgemeinen und mit deiner Ausrüstung im Besonderen vertraut machst, desto weniger Zeit musst du mit der Optimierung der Pegel verbringen – immer schlecht, wenn der Raum voller Musiker ist, die ungeduldig auf die Aufnahme warten.
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